Der Große Waldgeist
"Manchmal glaube ich, es wird alles zuviel für mich.", sagte der Große Waldgeist und runzelte die Stirn. Die zweihundertjährige Eiche nickte. "Ja ja.", sagte sie und ihre Blätter raschelten leise vor sich hin. "Es wird wirklich alles zuviel für mich.", sagte der Große Waldgeist wieder und fingerte an einem der vielen Tannenzapfen, die sich in seinem Bart verfangen hatten. Er seufzte laut, so laut, daß ein Eichhörnchen, das grade Bucheckern sammelte die Flucht ergriff.
Es war ein schöner Morgen im Herbst. Die Luft war klar. Man konnte die Motoren der Autos auf der nahe gelegenen Straße brummen hören. Der Große Waldgeist hatte grade seinen morgendlichen Spaziergang durch den Wald beendet und war bei der Eiche stehengeblieben. Die Zeiten sind auch nicht mehr das, was
sie einmal waren." sagte er und ließ sich auf einem Baumstumpf neben der Eiche nieder, worauf sich die Eiche empört räusperte. "Du sitzt auf meiner Schwester!", sagte sie, doch der Große Waldgeist hob gleichgültig die Schultern. "Was macht das schon", sagte er, "sie ist seit einem Jahr tot." Die zweihundertjährige
Eiche weinte eine dicke Träne, so wie sie es immer tat, wenn
man über ihre Schwester redete, die im nächsten Jahr zweihundertfünfzig Jahre alt geworden wäre und die jetzt wahrscheinlich in viele Stücke zerlegt in den großen grauen Betonkästen mit
den Glasscheiben stand, um den Menschen als Wohnzimmerschrank
zu dienen. "So ist das nun mal heutzutage.", sagte der Große Waldgeist, aber auch er zog eine traurige Miene. "Die Menschen brauchen uns nicht mehr." Die Eiche schniefte noch einmal und
schaukelte sacht den Ast hin und her auf dem ein Vogel sein Nest hatte Und grade erwachte. "Wir könnten uns einen Platz
suchen, an dem wir gebraucht werden.", sagte der Große Waldgeist, doch die alte Eiche schüttelte den Kopf. "Nein nein", sagte sie, "ich bleibe hier. Seit zweihundert Jahren ist dies mein Platz. Ich wurde hier geboren, und hier werde ich auch sterben." "Ich werde eine Waldversammlung einberufen.", sagte der Große Waldgeist und erhob sich vom Baumstumpf. Und wenig später waren alle Bäume und Tiere, ja sogar das kleinste Grashälmchen wach und wartete darauf, was der Waldgeist ihnen zu sagen hatte. "Hört alle zur" sagte er laut. "Schon lange wissen wir es. Die Menschen brauchen uns nicht mehr, wir sind unnütz geworden. Wir müssen uns einen Platz suchen, an dem
wir gebraucht und beachtet werden. Wir können hier nicht bleiben. Immer mehr von uns sterben. Aber wir werden etwas dagegen tun. Wir können gehen!" Als er verstummte, redeten alle durcheinander. Empörung und Angst breiteten sich aus wie eine große Welle, die den Wald zu überschwemmen drohte. Der Große Waldgeist wartete. Er hatte geahnt, daß so etwas geschehen würde und er ließ den Wald und seine Bewohner gewähren. Er war sehr alt, so alt wie es der Wald war und mit jedem Jahr, das er älter geworden war, war auch seine Weisheit gewachsen. Die Stimmen wurden leiser, bis es schließlich still war. "Also?", fragte der Große Waldgeist und die Tiere und Bäume des Waldes sahen einander an. "Wir wollen bleiben!", rief das Wildschwein, und die kleine Tanne, die erst seit zwei Jahren im Wald war nickte. "Ja genau! Wir wollen bleiben.", riefen auch andere und wieder drohte der
Wald in einer Welle von Stimmengewirr zu ertrinken. Der Große Waldgeist hob besänftigend die Hände. Sofort wurde es wieder still. "Aber wir können so nicht weiterleben. Wir werden immer weniger. Auch du wirst bald von hier verschwinden!", sagte er und sah zu der kleinen Tanne. Sie zuckte zusammen und sah zu Boden. "Wir werden trotzdem hierbleiben.", sagte das Reh und jeder Baum und jedes Tier nickten bekräftigend. Der Große Waldgeist seufzte. "Gut", sagte er, "dann werde ich allein gehen. Und glaubt mir, irgendwo werde ich den Ort finden, an ? dem der Wald und seine Bewohner noch von Bedeutung sind." Die Tiere und Bäume flüsterten aufgeregt, doch der Große Waldgeist beachtete es nicht. Er hob die Hand zum Abschied. "Leb wohl!", sagte die alte Eiche als der Große Waldgeist den Wald verließ. Er ging zu der Straße von der man im Wald die Autos hatte brummen hören, denn er glaubte, sie würde zu dem Ort führen, den er suchte. Er bemerkte nicht das Auto, das auf ihn zukam. Er spürte nur noch, wie es ihn mitriß und er schließlich auf der kalten steinigen Straße lag. Er fühlte sich sehr schwach und schloß die Augen. Die Tannenzapfen, die sich im Bart des Großen Waldgeistes verfangen hatten, lösten sich und rollten über die Straße.
Kathrin Rotter Dezember 1996