7. Die zweiten sieben Jahre: von 8 bis 14

 

Der Planet Erde ist eine Universität, die in einem Meer des Geistes ihre Runden dreht. Man kommt an Bord, um zu genießen, was das Leben auf materieller Ebene zu bieten hat, und auch um die eigenen Grenzen zu erfahren. Die ersten sieben Jahre verbringt man damit, sich an den beschwerlichen Raumanzug, den man mit- bekommt, den Körper, zu gewöhnen. Die Erdatmosphäre ist so beschaffen, daß dieser Raumanzug mit all seinen Funktionen und Zusatzeinrichtungen, einschließlich eines automatischen Atmungs- systems, während des Tages ständig getragen werden muß. (In der Nacht ist das Verlassen des Universitätsgeländes gestattet, doch davon später.)

An manchen Fachbereichen dieser Universität geht es sehr streng und rigoros zu, doch glücklicherweise ist der Lehrplan meistens äußerst flexibel und jeder kann sich weitgehend aussuchen, was er studieren möchte; man kann sich beim Lernen anstrengen, aber auch unbekümmert drauflosarbeiten oder sich viel Zeit lassen. Eine Prüfung wird erst beim Abgang von der Hochschule abgelegt. Es gilt jedoch eine ganz besondere Regelung: die Noten muß jeder sich selbst geben. Niemand sonst tut das. Und ob man noch einmal zum Lernen zurückkehrt und wann, und was man dann studiert, bestimmt auch jeder selbst.

Darum müssen alle Probleme und Aufgaben, die sich einem auf der Erde stellen, auch angepackt werden, denn wenn man eines Tages so weit ist, wieder zu gehen, nimmt man alles Gelernte mit, und im Geiste dazu noch eine Liste aller Prüfungen, die man nicht bestanden oder vor denen man sich gedrückt hat.

In den ersten sieben Jahren macht sich der Mensch, wie bereits gesagt, in seiner neuen Umgebung heimisch, und hoffentlich stehen Familie und Freunde ihm dabei liebevoll zur Seite. Die Vorstellungskraft weitet sich und man fängt an, eine neue und unbekannte Welt zu erkunden.

Meiner Meinung nach sollte die formale Bildung beim Kind erst im Alter von sieben Jahren einsetzen, denn bei einem früheren Beginn nimmt man seinem Geist die Möglichkeit, aus seiner Phantasie zu lernen.

Die nächsten sieben Jahre sind genauso wichtig, aber aus einem anderen Grund. In dieser Zeit entwickeln sich Geist und Körper bis zur Pubertät. Das Kind wird sich in zunehmendem Maße seiner Beziehungen zu anderen Kindern und zu Erwachsenen bewußt. Nach und nach tritt es aus seiner ihm eigenen Welt heraus, in der ihm seine eigenen Gedanken und Vorstellungen wichtiger und wirklicher waren als die "reale" Außenwelt. Seine Erlebnisse in der Phantasiewelt erscheinen ihm jetzt weniger wirklich als die äußere Umgebung.

Diese Zeit kann recht schwierig für das Kind sein, wenn es erkennt, daß es nun mit körperlichen und materiellen Problemen selbst fertig werden muß und daß niemand seine private Welt wahrnehmen oder verstehen kann, die es nun nach und nach hinter sich läßt.

In diesen Jahren von acht bis vierzehn beginnt das Kind nicht nur, sich selbst zu analysieren, sondern auch andere Menschen seiner Umgebung; sein Kritikvermögen bildet sich aus, und es glaubt nicht mehr so einfach alles. Eltern und Lehrer müssen sehr viel Geduld aufbringen und sich sorgsam davor hüten, es mit billigen Antworten abzuspeisen, wenn es direkte Fragen stellt. Das Kind wird ausweichende oder unsichere Antworten sehr schnell durchschauen und dann kein Vertrauen mehr zu denen haben, auf die es eigentlich angewiesen ist. Damit wird der Grund für mangelndes Selbstvertrauen und spätere psychische Probleme gelegt.

Die Eltern sehen sich in dieser Zeit auch der schwierigen Aufgabe gegenüber, ihrem Kind Selbstbeherrschung beizubringen. Das ist zwar mühsam, bringt aber auch Freude. Denn wenn man das Kind zur Selbstbeherrschung hinführt, wird es fast immer auch Selbstachtung und dann Achtung für andere entwickeln. Am lehrreichsten ist das eigene gute Beispiel, weshalb die Eltern bei sich selbst anfangen müssen.

Das Kind wird natürlich auch durch andere Kinder beeinflußt, ebenso von der Mode und durch die Medien, weswegen es sich von Zeit zu Zeit gegen euch, gegen die Schule und gegen alles mögliche auflehnen wird. Das zeigt aber nur, daß der Geist versucht, sich durch den Körper zu äußern. In dieser Zeit sind die Frustrationen besonders stark, denn der Körper wächst immer noch und kann auf die Impulse des Geistes noch nicht richtig reagieren - und Eltern wissen, wozu das führt. Ist der Geist kraftvoll, wird die Frustration nur noch größer.

Ich appelliere an alle Eltern, diese Phase der Auflehnung zu akzeptieren. In ihr arbeitet das Kind intensiv daran, aus dem Kokon zu schlüpfen und sich als eigenständige Persönlichkeit zu festigen. Manche deuten ein solches Verhalten manchmal als Mangel an Zucht und Respekt oder als Unfähigkeit der Eltern, mit dem Kind fertig zu werden. Oft ist es aber einfach das Toben eines Geistes, der sich entweder in einer unfruchtbaren oder zu stark einengenden Umgebung nicht zum Ausdruck bringen kann, oder der sich an der Autorität reibt, um sich selbst zu finden.

Es hilft sehr, wenn Eltern sich abends ein paar Minuten Zeit nehmen, um über ihre Kinder nachzudenken, allerdings nicht, um sich zu sorgen. Man kann ein Kind mit einer höchst komplizierten Maschine vergleichen, die durch einen so feinen und empfindlichen Computer gesteuert wird, daß sie durch die geringste Erschütterung aus dem Rhythmus gerät. Darum könntest du dir jeden Abend sagen: "Dies ist mein Kind. Es wollte, daß ich sein Vater oder seine Mutter bin und für es sorge. Ich will alles daransetzen, seinem Geist und seinem Körper zu Harmonie zu verhelfen." Sende einen positiven Gedanken der Liebe zu deinem Kind aus und stelle dir vor, wie es darin eingehüllt wird. Das wird den Prozeß der Gleichgewichtsfindung und der Eingliederung fördern. Wenn du das jeden Abend tust und besonders immer dann, wenn du spürst, daß in deinem Kind ein Kampf tobt, dann wird deine stille Mühe belohnt werden; davon bin ich überzeugt.

Während dieser Zeit befindet sich dein Kind in einer Orientierungsphase. Gestalte sein Leben so abwechslungsreich wie möglich, denn in dieser Zeit werden die Grundlagen für seine späteren Tätigkeiten und Interessen gelegt. Im Alter von 14 Jahren fängt es an, auf den Dingen aufzubauen, die es in den vorhergehenden sieben Jahren kennengelernt hat. Deswegen mußt du ihm so viel Beistand wie möglich geben. Zwar wird es die angebotenen Möglichkeiten nicht alle wahrnehmen, doch denke daran, daß es immer noch beim Erkunden ist und nicht genau weiß, wohin es will, und daß es ein Eingehen auf deine Vorschläge als ein Aufgeben seiner Eigenständigkeit ansieht.

Gib nie auf, sondern sorge einfach dafür, daß die schöpferische Phantasie des Kindes angeregt wird und daß du seinen Erfahrungshorizont erweiterst, soviel du nur kannst. Achte darum darauf, daß dein Kind reichlich Schlaf bekommt. In diesem Alter wollen sich die meisten Kinder mehr zumuten, als sie verkraften können. Im Alltag wirst du schnell merken, wieviel Schlaf es braucht. Jede Persönlichkeit und jeder Körpertyp hat seinen eigenen Be- darf, nicht nur wegen der körperlichen Abläufe, sondern auch weil der Geist den Körper im Schlaf verläßt, um in anderen Sphären Anleitung zu erhalten und Erfahrungen zu sammeln. Diese braucht das Kind unbedingt, wenn es am nächsten Tag frisch und bei Kräften sein soll. Dem jungen Menschen, der die Fähigkeit hat, im Schlaf zu lernen, steht ein riesiger Schatz an menschlicher Erfahrung, Volksweisheit, Tradition und Erkenntnissen offen.

Das Jahrsiebt von acht bis vierzehn ist für die Eltern am spannendsten, denn zu keiner anderen Zeit sind die Veränderungen im Leben des Kindes so groß. Man erlebt, wie es aus seiner Phantasiewelt auftaucht und die Realität immer mehr Platz beansprucht. Man kann zusehen, wie es Beziehungen zu anderen aufbaut, wie sich seine Denkfähigkeit ausbildet, wie es sich seines Körpers bewußt wird und Schritt für Schritt heranwächst. Die Eltern nehmen an einer Vielzahl schmerzlicher und freudiger Ereignisse teil, die zur Entwicklung dazugehören, und bei denen das Kind von allen, die ihm beistehen, viel Verständnis und vor allem Geduld braucht.

Ein Kind ist ein sehr zarter Organismus, und Körper und Geist stehen in einem sehr empfindlichen Gleichgewicht, das sei ein weiteres Mal betont. Für den Fall, daß Kinder widerspenstig oder ungehorsam sind, rate ich nicht zu körperlicher Züchtigung, auch nicht zu anderen Formen der Strafe, emotionalen wie rationalen. Derartige Vergeltungsmaßnahmen befreien vielleicht den Erwachsenen von seinem Ärger, übertragen diesen aber auf das Kind. Ein Erwachsener, der zu körperlichen, emotionalen und anderen Strafen greift, offenbart damit meines Erachtens sein Versagen gegenüber dem Kind.

Das Kind kann nur Liebe geben - auch wenn es manchmal bösartig, verstockt und zerstörerisch ist, auch wenn es in seinem Bemühen, sich zum Ausdruck zu bringen, oft Dinge tut, die man kaum ertragen kann. Und wenn das vorkommt, dann frage man sich, was wohl dem Zorn, der Gewalt und der Selbstzerstörung zugrunde liegen könnte. Es gibt nur Ursachen, keine Schuld.

Je mehr Liebe ihr einem Kind geben könnt, desto größer wird die heilende Wirkung auf allen Ebenen sein. Auf diesen Einfluß kommt es wohl am allermeisten an. Darum sollten Eltern, Lehrer und Freunde sich nicht scheuen, den ihnen anvertrauten Kindern ihre Zuneigung zu zeigen. Mädchen wie Jungen brauchen Wärme, Liebe und Körperkontakt, weil das alles die Harmonie zwischen innerem und äußerem Wesen herbeizuführen hilft. Bei vielen Gelegenheiten er- reicht ihr mit einem Verhalten, das Wärme, Zuneigung und Verständnis offenbart, mehr als mit irgend etwas sonst.