9. Eltern und Kinder
"Ich gebe mir große Mühe, meine Kinder zu verstehen, doch was ich
auch sage oder vorschlage, es stößt anscheinend nur auf Ablehnung
- einfach weil es von den Eltern kommt. Kannst du mir helfen, das
zu begreifen und zu akzeptieren?"
Ich kann dich gut verstehen. Es kommt sehr häufig vor, daß sich
die Jugend von den Erwachsenen verraten fühlt. Dann werden
einzelne Eltern, die vielleicht sehr liebevoll sind, von den
Kindern zurückgewiesen, auch wenn die Kinder bei ruhigem Nach-
denken ganz anders handeln würden. Das ist ein klassisches
Beispiel dafür, wie einmal nicht das Kind, sondern die Eltern mit
dem Bade ausgeschüttet werden.
Vielleicht hilft es, sich einen Augenblick von der eigenen
Erfahrung zu lösen und alles aus der Perspektive der jüngsten
Geschichte zu betrachten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg mit all seinen Schrecken und Opfern
waren die meisten Menschen fest entschlossen, die zerstörerischen
Grundsätze und Einstellungen, die den Krieg möglich gemacht
hatten, abzulegen, damit künftige Generationen mehr Aussicht auf
Frieden und Sicherheit hätten. Heute, nach über 40 Jahren, können
wir zurückblicken und uns fragen, ob die guten Absichten Früchte
getragen haben.
Wir sehen uns jetzt von einer neuen Generation umgeben, die
keinerlei innere Beziehung zur älteren Generation hat und
entsprechend intolerant und ungeduldig mit ihr umgeht.
"Das soll die Welt sein, für die ihr euch so angestrengt habt?",
rufen die jungen Leute. "Wenn das alles ist, können wir darauf
auch verzichten!"
Und wer will ihnen das verübeln? Oft haben sie recht. Den Eltern
kann man auch keine Schuld geben, denn sie waren vor nicht allzu
langer Zeit ebenfalls Kinder und sind auch nur das Produkt ihrer
Eltern. Wenn ein junger Mensch sich aber entfalten und ein
positives, offenes Wesen aufbauen soll, dann braucht er dafür
auch emotional eine einigermaßen stabile Grundlage. Er muß seine
Eltern achten können, und sie ihn. Er muß irgendein geistiges
Erbe mitbekommen, das ihn befähigt, die Gefahren und Aufgaben des
modernen Lebens zu meistern.
Man muß der Jugend die Einsicht vermitteln, daß sich ihr Leben
nicht in einen inneren und einen äußeren Bereich aufspalten darf,
die miteinander nichts zu tun haben - ein mythisches Sonntags-
ideal und die harte Alltagswirklichkeit. Das ist genau die
Einstellung, die gefährliche, trügerische Spaltung, die über-
wunden werden muß. Wollen wir den jungen Menschen in ihrer Ent-
faltung eine Hilfe sein (und sie auf die Zeit vorbereiten, in der
sie selbst Erwachsene und Eltern sein werden), dann müssen wir
ihnen ein grundlegendes Maß an Selbstbeherrschung und Selbst-
achtung vermitteln. Dies allein kann ihrem Leben Festigkeit
verleihen. Andere ganz wesentliche Dinge ergeben sich dann von
alleine, etwa die Achtung vor dem Mitmenschen und vor dem
Planeten, dem sie alles verdanken.
In einer Zeit, in der Geheimhaltung, Intrige und Unterdrückung
langsam verschwinden - man spürt förmlich, wie das Alte zerfällt,
während die Menschen sich immer mehr nach Wahrheit sehnen -, müßt
ihr die Jugend mit grundlegenden, überall gültigen Wahrheiten
nähren, allerdings nicht unbedingt mit irgendeinem bestimmten
festgefügten Glaubensgebäude, das alle anderen ausschließt, denn
das führt zu dem Fanatismus und Dogmatismus, der die Menschheit
schon so lange bedrückt.
Ihr müßt auch bereit sein, von euren Kindern zu lernen. Viele
bringen heute Fähigkeiten und Einsichten mit, die denen ihrer
Eltern weit voraus sind.
Jedes intelligente Kind wird, wenn man ihm nicht mit Gewalt etwas
anderes einimpft, die große gestaltende Intelligenz erkennen, die
hinter allem Leben steht, und bereits diese Erkenntnis allein
wird einen wißbegierigen jungen Verstand an alle Tore führen, die
er öffnen möchte.
Kinder zu haben ist eine Auszeichnung für die Eltern. Das Kind
ist euch nichts schuldig, und trotz aller Opfer und der Selbst-
aufgabe, die die Erziehung fordert (und die ihr eines Tages
dankbar als Initiationen erkennen werdet), habt ihr kein Recht,
eure Kinder unter Druck zu setzen, von ihnen Zuneigung zu
fordern, sie an euch zu binden oder von ihnen zu verlangen, ihr
Leben oder ihre Berufslaufbahn an eurem Vorbild zu orientieren.
Alle Liebe, Achtung und Treue, die ihr von euren Kindern erhal-
tet, müßt ihr euch verdienen; verlangen könnt ihr gar nichts. Wer
sie erzwingen will, ruft nur Angst und Abscheu hervor. Wer sein
Kind unterdrückt, es quält oder mit falscher Liebe erdrückt, wird
ernten, was er gesät hat, wenn die Zeit dafür reif ist, denn das
ist das Gesetz der unausweichlichen Folgen, das Gesetz des Karma.
Wer sein Kind liebt, es hegt und pflegt und beschützt, der wird
in der Zukunft die gleichen Wohltaten erhalten. Auch dies folgt
aus dem großen Gesetz.
Bitte entschuldigt, daß ich mich so lange mit den negativen
Seiten dieses fesselnden Themas aufgehalten habe, doch ihr werdet
mir wohl zustimmen, daß man sich dem Problemkreis stellen muß,
wenn man etwas ändern will. Trotz aller Entfremdung zwischen jung
und alt heute denke ich aber, daß die Elternrolle die vielleicht
wichtigste, anspruchsvollste und von ihren Möglichkeiten her
befriedigendste Aufgabe bietet, die es im Leben geben kann.
Wie merkwürdig ist es dann, daß unsere Schulen und Universitäten
auf diesem Gebiet praktisch überhaupt nichts vermitteln.